18
Rio schlug die letzten paar Stunden vor der Morgendämmerung zusammen mit Dante im hinteren Hof des Anwesens tot, dann ging er wieder hinunter ins Hauptquartier, um in der Kapelle etwas allein zu sein. Das stille kleine Heiligtum, wo der Orden seine wichtigsten und persönlichen Zeremonien durchführte, war ihm immer ein Refugium gewesen. Nicht jetzt. Alles, was er in dem kerzenerleuchteten Raum sah, waren Erinnerungen an Evas Verrat.
Ihretwegen hatten sie vor über einem Jahr einen der ehrenwertesten Ordenskrieger in weiße Begräbnistücher hüllen, salben und ihn vor den Bankreihen auf den Altar legen müssen. Conlans Tod in einem U-Bahn- Tunnel im letzten Sommer war nicht beabsichtigt gewesen - er war zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen -, aber sein Blut klebte an Evas Händen.
Rio konnte sie immer noch vor sich sehen, wie sie an seiner Seite in der Kapelle stand, sich an ihn schmiegte und weinte und dabei die ganze Zeit ihren Verrat verschwieg. Sie hatte ihre nächste Chance abgewartet, mit den Feinden des Ordens zu konspirieren, in der irrigen Hoffnung, Rio dem Orden zu entreißen, selbst wenn er dabei verstümmelt wurde. Wenn er nur endlich ihr gehörte, ihr ganz allein.
Die Ironie dabei war, dass er den Orden niemals verlassen hätte.
Das wollte er auch jetzt nicht. Und wenn er nur das Gefühl hätte, den Kriegern, die nun fast ein Jahrhundert lang seine Familie gewesen waren, auch nur irgendwie von Nutzen sein zu können, würde er es auch nicht tun. Wenn diese Explosion, die ihn fast getötet hätte - hätte sie es nur getan! -, ihm nicht den Verstand und seine Selbstkontrolle geraubt hätte.
„Scheiße“, murmelte er und wirbelte herum, um aus dieser verdammten Kapelle herauszukommen.
Er musste nicht länger dort mit seinen alten Geistern verweilen oder dem Elend, das sie ihm brachten. Er musste nur in den Spiegel oder in eine Fensterscheibe blicken, um Eva in seinen Gedanken zum Leben zu erwecken. Er gab sich verdammte Mühe, das zu vermeiden. Nicht nur, weil es ihn immer noch mit Entsetzen erfüllte, was da zu ihm zurückstarrte, sondern auch, weil er wollte, dass Eva endgültig aus seinem Leben verschwand. Allein schon ihren Namen zu hören löste in ihm einen unkontrollierbaren Wutanfall aus.
Was Dylan leider bestätigen konnte.
Ob sie wohl in Ordnung war? Tess hatte sich sicher um sie gekümmert und sie exzellent versorgt, auch wenn die Heilkräfte ihrer Hände in der Schwangerschaft nachgelassen hatten.
Und doch, es ließ ihm keine Ruhe. Er hasste sich dafür, wie er reagiert hatte. Dylan ging es da vermutlich ähnlich. Wenn sie nicht zu beschäftigt damit war, ihn zu bemitleiden, das seelische Wrack, das er war.
Rio fühlte sich so allein und verlassen wie ein Geist, als er die Kapelle des Hauptquartiers hinter sich ließ und das Labyrinth der Korridore hinunterging, bis er die leere Krankenstation erreichte. Im Krankenzimmer, das in den Monaten nach der Explosion sein Zuhause gewesen war, nahm er eine kurze Dusche und ließ das heiße Wasser die Schmerzen in seinen Muskeln und das anschwellende Hämmern seiner Schläfen fortspülen. Und während er das Wasser abstellte und sich trocken rubbelte, kehrten seine Gedanken zu Dylan zurück. Es tat ihr gar nicht gut, gegen ihren Willen hier festgehalten zu werden. Und damit sie endlich gehen konnte, musste er sich so schnell wie möglich darum kümmern, ihre Story zu entschärfen.
Jetzt war es Morgen, Schlafenszeit für die Stammesvampire, aber nicht für die Menschen an der Oberfläche. Sie gingen an einem ganz gewöhnlichen Wochentag ihren Geschäften nach. Ein Tag mehr für Tess' Chefredakteur, ihre Story für die Veröffentlichung vorzubereiten.
Ein Tag mehr für die Frauen, mit denen Dylan gereist war, sich über die Höhle zu unterhalten, die sie gefunden hatte, und Spekulationen anzustellen, was sie wohl einmal enthalten haben mochte. Wieder ein Tag, an dem Rios Versagen den Orden und das ganze Vampirvolk in Gefahr brachte, von der Menschheit entdeckt zu werden.
Er zog sich eine lose Navy-Trainingshose und ein ärmelloses T-Shirt über, die seit seinem ausgedehnten Aufenthalt in der Krankenstation immer noch zusammengefaltet im Schrank lagen, zusammen mit ein paar anderen Sachen. Als er in den Korridor hinaustrat und sich auf den Weg zurück zu seinem Privatquartier machte, hatte er seine Entschlossenheit wiedergefunden. Sein Kopf war jetzt klarer, und er war bereit und willens, Dylan ihre Höhlenstory zu vermasseln, bevor auch nur eine weitere Minute verging.
Aber als er die Tür zu seinem Privatquartier öffnete, war alles dunkel. Nur eine kleine Tischlampe leuchtete in der Wohnzimmerecke, wie ein Nachtlicht für ihn, für den Fall, dass er zurückkam. Er starrte den freundlichen kleinen Lichtschein an, als er ins Zimmer schlüpfte und leise die Tür hinter sich schloss. Dylan schlief. Er konnte sie in seinem Bett im angrenzenden Schlafzimmer sehen, wie sie sich auf der Daunendecke zusammengerollt hatte. Sie musste erschöpft sein. Die letzten drei Tage forderten ihren Tribut. Zur Hölle noch mal, bei ihm auch.
Er ging ins dunkle Schlafzimmer hinüber und vergaß beim Anblick von Dylans langen nackten Beinen prompt sein ursprüngliches Vorhaben. Sie trug ein weites Hängertop und pastellfarbene karierte Boxershorts, die sie offenbar aus ihrer Reisetasche geholt hatte, die offen neben dem Bett stand.
Was Schlafwäsche anging, war diese Baumwollkombination nicht sonderlich sexy - sie kam nicht heran an die teuren Fetzen aus Spitzen und Satin, in denen Eva immer vor ihm herumstolziert war. Aber Dylan sah, verdammt noch mal, gut aus, wenn sie praktisch nichts anhatte ... und das in seinem Bett.
Cristo, viel zu gut sah sie aus.
Rio zog eine Seidendecke von einem Stuhl in der Schlafzimmerecke und trug sie zum Bett hinüber, um sie zuzudecken. Und er tat das nicht bloß, um höflich zu sein. Als Stammesvampir sah er im Dunkeln schärfer. All seine Sinne waren schärfer, und momentan hatten sie sich verschworen, ihn mit Eindrücken von der halbnackten jungen Frau zu überfluten, die da so verletzlich vor ihm lag.
Er versuchte, nicht zu bemerken, dass ihre Brüste unter dem knappen T-Shirt nackt waren und ihre Brustwarzen sich reizvoll gegen den dünnen Baumwollstoff pressten. Die Versuchung, ihre glatte weiße Haut anzustarren - besonders den entblößten Streifen ihres Unterbauchs, wo ihr T-Shirt sich verdreht und über ihrem Nabel hinaufgeschoben hatte -, war mehr, als er ertragen konnte.
Aber als er sich mit der Decke dem Bett näherte, regte sie sich leicht, verlagerte ihre Beine und drehte sich etwas mehr auf den Rücken. Rio stand da, bewegungslos, und betete darum, dass sie jetzt nicht aufwachte und ihn bemerkte, wie er wie ein Phantom über ihr lauerte.
Sie anzusehen jagte ihm einen heißen Schmerz in die Brust. Er hatte keine Ansprüche auf Dylan, und doch rann ihm ein Besitzergefühl durch sein Blut wie mehrere tausend Volt elektrischer Spannung. Sie gehörte nicht ihm - und würde ihm nie gehören, für welchen Weg sie sich schließlich auch entschied. Ob sie eine Zukunft mit dem Stamm in einem Dunklen Hafen wollte oder eine an der Oberfläche, ohne jede Erinnerung an Rio und seine Spezies, sie würde auf keinen Fall ihm gehören. Sie hatte etwas Besseres verdient, so viel war sicher. Ein anderer Mann - ob vom Stamm oder ein Mensch - wäre viel geeigneter, sich um eine Frau wie Dylan zu kümmern. Es würde das Privileg eines anderen sein, ihre weichen Rundungen und ihre seidige Haut zu erkunden. Das Vergnügen eines anderen, den zarten Puls zu schmecken, der in der süßen Kuhle an ihrem Halsansatz schlug. Nur ein anderer Stammesvampir sollte die Ehre haben, Dylans Venen mit einem zarten, ehrfürchtigen Biss zu öffnen.
Es würde das feierliche Gelöbnis eines anderen sein - nicht seines -, sie vor allem Unbill zu beschützen und sie treu und auf ewig mit dem Blut und der Stärke seines unsterblichen Körpers zu nähren.
Das war nicht sein Recht, dachte Rio grimmig, als er die Decke über sie breitete, so sacht er nur konnte. Kein einziges Stückchen von ihr hatte er hier zu begehren. Aber er tat es trotzdem. Gott, und wie er sie begehrte.
Er brannte vor Begehren, obwohl er wusste, dass es nicht sein durfte. Rio sagte sich, dass seine Hände rein zufällig ihre Rundungen streiften, als er die Seidendecke höherzog. Es geschah nicht mit Absicht, dass er seine Finger durch ihr weiches Haar fahren ließ, die flammend roten Wellen vom letzten Waschen noch feucht. Er konnte nicht widerstehen, mit dem Daumen über die sanfte Rundung ihrer Wange zu fahren und über die samtige Haut unter ihrem Ohr.
Und auch seinen geflüsterten Fluch konnte er nicht zurückhalten, als sein Blick auf das Pflaster fiel, das die Schnittwunde verdeckte. Die er verursacht hatte.
Scheiße. Das war alles, was er ihr anzubieten hatte - Schmerz und Entschuldigungen. Und der einzige Grund, dass sie ihn jetzt so nah an sich heranließ, war, dass sie nicht wusste, dass er da war.
Sie war nicht wach und sah das Ungeheuer nicht, das über ihr im Dunkeln lauerte, sie verstohlen betatschte und darüber nachsann, wie es wohl wäre, noch viel mehr mit ihr anzustellen. Das sie so sehr wollte, dass ihm die Fangzähne in die Zunge drangen und die Augen, die sich vor Lust verändert hatten, ein intensives bernsteingelbes Licht ausstrahlten. Diese stammestypischen Doppelscheinwerfer badeten sie in einem polierten Glanz und erleuchteten jede Mulde und köstliche Rundung an ihr.
Er zog die Hand weg, und wieder regte sie sich im Schlaf, wahrscheinlich spürte sie die Hitze seines transformierten Blickes.
Schnell senkte er die Lider und schaltete so diese Doppelscheinwerfer aus, und wieder war es stockdunkel im Zimmer.
Geräuschlos wich Rio vor ihr zurück.
Dann schlüpfte er aus dem Schlafzimmer, bevor er sich dort noch mehr als Dieb betätigen konnte, der zu werden er fürchtete, wenn es um diese Frau ging.
Zuerst dachte Dylan, dass die Berührung sie geweckt hatte, aber die sanften Finger, die ihr über die Wange strichen, waren eine tröstliche Wärme gewesen, die ihren Schlaf nur umso erholsamer machte. Die abrupte Abwesenheit dieser Wärme war es, die sie aus einem äußerst angenehmen Traum riss.
Sie öffnete die Augen und sah nichts als Dunkelheit um sich.
Sie war in Rios Schlafzimmer. In seinem Bett.
Bei dieser Erkenntnis setzte sie sich auf und fühlte sich extrem unbehaglich, dass sie hier einfach so eingeschlafen war, nachdem sie in der Nacht noch geduscht hatte. Oder war es schon Tag? Sie wusste es nicht und konnte es auch nicht sagen, denn in all den tausend Quadratmetern von Rios Wohnung waren keine Fenster zu sehen. Die Wohnung war dunkel und still, aber Dylan spürte, dass sie nicht allein war. „Hallo?“
Nur noch mehr Stille antwortete ihr.
Sie spähte ins Wohnzimmer hinaus und bemerkte, dass die Lampe, die sie angelassen hatte, nun ausgeschaltet war. Und in der Zwischenzeit war definitiv jemand hier gewesen, denn dieser Jemand hatte sie mit einer leichten Decke zugedeckt, die vorher über einem der Schlafzimmerstühle gelegen hatte.
Es war Rio. Sie war sich absolut sicher. Er war es gewesen, der gerade am Bett gestanden hatte. Seine Berührung war es gewesen, die sich an ihrer Haut so gut angefühlt und dann plötzlich nur noch Kälte hinterlassen hatte, als sie verschwand. Dylan fuhr herum und stellte die nackten Füße auf den Boden. Sie ging zu der geschlossenen Flügeltür hinüber und öffnete sie leise, während sie sich bemühte, etwas in dem dunklen Wohnzimmer auf der anderen Seite zu erkennen. „Rio ... schläfst du?“
Sie fragte nicht, ob er da war; sie wusste es. Sie konnte seine Anwesenheit am plötzlichen Hämmern ihres Herzens spüren, das Blut durch ihre Venen jagte. Dylan ging über den Fußbodenteppich hinüber zu der Stelle, wo sie sich erinnerte, auf einem kleinen Schreibtisch eine gedrungene Lampe gesehen zu haben. Sie tastete sich voran, tastete vorsichtig mit den Fingern nach dem kalten Porzellansockel.
„Lass sie aus.“
Dylan drehte den Kopf in die Richtung von Rios Stimme. Er war rechts von ihr, fast in der Zimmermitte. Jetzt, wo ihre Augen sich allmählich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie ihn erkennen, die riesige, dunkle Silhouette, die auf dem Samtsofa saß. Sein Körper und seine langen Glieder überlagerten die zierlichen Konturen des Möbelstücks.
„Du kannst dein Bett wiederhaben. Ich wollte dort nicht einschlafen.“
Sie ging tiefer in den Raum hinein ... und hörte ein tiefes, grollendes Knurren aus seiner Richtung.
Oh Gott. Sic blieb wie angewurzelt stehen, nur wenige Schritte vom Sofa entfernt. Hatte er womöglich wieder einen Anfall wie vorhin? Oder hatte er sich noch nicht davon erholt?
Dylan räusperte sich. Wagte einen erneuten Schritt auf ihn zu. „Bist du ... ähm, brauchst du ... irgendwas? Weil, wenn ich was für dich tun kann ...“
„Verdammt noch mal!“ Der Klang seiner Stimme war eher verzweifelt als wütend. Er zog wieder eines seiner Schneller-als-du-gucken-kannst-Manöver ab, schoss vom Sofa hoch und zur hinteren Zimmerwand. So weit weg von ihr, wie er nur konnte. „Dylan, bitte. Geh einfach wieder schlafen. Du musst von mir wegbleiben.“
Das war vermutlich ein wirklich guter Rat. Von einem Vampir mit den Spätfolgen einer Schädelverletzung und einer unkontrollierbaren Wut von nuklearen Ausmaßen wegzubleiben war vermutlich das Allerschlaueste, was sie jetzt tun konnte. Und doch gingen Dylans Füße einfach von selbst weiter, als hätten ihr gesunder Menschenverstand und ihr Überlebensinstinkt plötzlich ihre Sachen gepackt und wären kurz entschlossen in Urlaub gefahren.
„Ich habe keine Angst vor dir, Rio. Ich glaube nicht, dass du mir wehtun wirst.“
Er sagte nichts, um es zu bestätigen oder abzustreiten. Dylan konnte seinen Atem hören - wenn man dieses scharfe, flache Keuchen denn so nennen konnte. Sie kam sich vor, als ging sie auf ein verwundetes Wildtier zu, bei dem man nicht sicher sein konnte, was wohl geschah, wenn man die Hand ausstreckte - ob sie ein wenig widerwilliges Vertrauen finden würde oder eine Kostprobe von wütenden Klauen und Fangzähnen.
„Du warst vor ein paar Minuten bei mir im Schlafzimmer ... nicht?“
Sie schob sich unaufhaltsam auf ihn zu, unbeirrt von der Wucht seines Schweigens oder der Dunkelheit, die ihn in Schatten hüllte. „Du hast mich berührt. Ich habe eine Hand auf meinem Gesicht gespürt. Ich ... ich hatte es gern, Rio. Ich wollte nicht, dass du aufhörst.“
Er zischte einen üblen, gewalttätigen Fluch. Sie fühlte eher, als dass sie es sah, wie sein Kopf heftig auffuhr. Es gab eine Pause, und dann musste er seine Augen geöffnet haben, denn die Dunkelheit war plötzlich durchdrungen von zwei glühenden Kohlen, die direkt auf sie gerichtet waren.
„Deine Augen...“, murmelte sie, gefangen wie eine Motte in der Flamme.
Sie hatte gesehen, wie Rios Augen sich von Topas zu Bernsteingelb transformierten, als er vor ein paar Stunden in seine Wohnung gestolpert kam, aber das hier ... das war anders. Jetzt hatten seine Augen etwas Schwelendes. Das war anders als Wut oder Schmerz.
Viel intensiver, wenn das überhaupt möglich war.
Dylan konnte sich nicht rühren, stand einfach nur da und spürte, wie die aufgeheizten Laserstrahlen von Rios Blick ihr von Kopf bis Fuß über den Körper glitten. Ihr Herz schlug schwer und stolperte, als dieser bernsteingelbe Blick über ihren Körper brannte und mitten in sie hinein.
Jetzt bewegte er sich, kam mit langsamer, raubtierhafter Grazie auf sie zu.
„Warum bist du auf diesen Berg gekommen?“, fragte er.
Dylan schluckte, sah ihm zu, wie er sich ihr in der Dunkelheit näherte. Schon wollte sie wieder sagen, dass es Eva gewesen war, die sie dorthin geschickt hatte, aber das war nur die halbe Wahrheit. Der Geist, der Eva war, hatte ihr den Weg gezeigt; aber Dylan war wegen Rio zur Höhle zurückgekommen.
Mehr als alles andere, einschließlich ihres Jobs, den sie mit der Geschichte von einem Dämon in den böhmischen Bergen hatte retten wollen, war Rio der Grund gewesen, dass sie in der Höhle blieb und der sie jetzt dazu brachte, die Hand nach ihm auszustrecken, wenn auch all ihr gesunder Menschenverstand ihr riet, zu fliehen. Er war es jetzt, das Begehren nach ihm, das dafür sorgte, dass ihre Füße wie angewurzelt auf dem Boden standen, wenn doch die Angst sie eigentlich in die andere Zimmerecke hätte katapultieren sollen, so schnell sie nur laufen konnte.
Jetzt war er direkt vor ihr, immer noch von der Dunkelheit verborgen, abgesehen von dem unheimlichen, verführerischen Glanz seiner Vampiraugen.
„Verdammt noch mal, Dylan. Warum bist du dort oben aufgetaucht?“
Seine Hände waren fest, als er sie an den Oberarmen pack. Er schüttelte sie leicht, doch er war derjenige, der zitterte. Warum? Warum musstest ausgerechnet du es sein?“ Sie wusste, dass der Kuss kam, selbst im Dunklen, aber als er dann seinen Mund auf ihren presste, war es, als durchzuckte Dylan eine lodernde Flamme. Sie versengte sie, schickte ihr heißes Verlangen zwischen die Beine. Sie schmolz dahin, Verlor sich in der Berührung von Rios Lippen - und, Herr im Himmel, seiner Fangzähne. Sie konnte die scharfen Spitzen spüren, als er ihr den Mund mit seiner Zunge aufstieß und sie dazu zwang, zu nehmen, was er ihr jetzt zu geben hatte.
Dylan kämpfte nicht dagegen an. Noch nie hatte sie etwas Erotischeres gespürt als Rios Fänge, mit denen er sie streifte, als er sie küsste. Es war eine so tödliche Macht in ihm; sie konnte es spüren, zusammengeballt und gefährlich, und nur um Haaresbreite davon entfernt loszubrechen. Rio hielt sie fest in den Armen, küsste sie rau, und noch nie in ihrem Leben war Dylan so erregt gewesen.
Er stieß sie rücklings auf das Sofa, seine starken Hände auf ihrem Rücken verschränkt, um ihren Fall abzufangen. Er fiel mit ihr, das Gewicht seines harten Körpers begrub sie unter sich. Sie konnte die dicke Beule seines Schwanzes spüren. Er fühlte sich riesig und steinhart an, als er sich zwischen ihre Körper zwängte. Dylan fuhr ihm mit den Händen über den Rücken, fuhr unter das ärmellose Baumwoll- T-Shirt, das er trug, um seine starken Muskeln zu spüren, als er sich auf ihr bewegte.
„Ich will dich sehen, Rio ...“
Sie wartete nicht auf seine Erlaubnis.
Mit der Hand tastete sie um sich, fand die Lampe neben dem Sofa und knipste sie an. Sofort war der Raum in weiches gelbes Licht gebadet. Rio saß rittlings über ihr, die Knie an ihren Hüften, und starrte mit dem Ausdruck tiefster Qual auf sie hinunter.
Seine Augen glänzten in feurigem Bernsteingelb. Seine Gesichtszüge waren angespannt, sein Kiefer geschlossen, aber trotzdem konnte er die erstaunliche Länge oder Schärfe seiner Fangzähne nicht verbergen. Die Dermaglyphen auf seinen Schultern und Armen pulsierten farbig - wunderschöne, tiefe Schattierungen von Burgund, Indigo und Gold.
Und seine Narben ... nun, auch die konnte sie sehen. Sie konnte sie nicht ignorieren, und das wollte sie auch gar nicht.
Dylan stützte sich auf einen Ellenbogen und streckte die andere Hand nach ihm aus. Er zuckte zusammen und drehte den Kopf nach links, als wollte er seine entstellte Wange verbergen. Aber das ließ Dylan nicht zu. Sie wollte nicht, dass er sich versteckte. Nicht jetzt, und nicht vor ihr. Wieder streckte sie die Hand aus und legte sanft ihre Handfläche auf die harte Kante seines Kiefers.
„Tu das nicht“, sagte er mit belegter Stimme.
„Es ist okay.“ Sanft drehte sie sein Gesicht, bis er sie frontal ansah.
So vorsichtig und leicht sie nur konnte, streichelte sie die vernarbte Haut. Sie fuhr seine Verletzungen nach, fuhr mit den Fingern seinen Hals entlang, zu seiner Schulter und seinem Bizeps, über die zerstörte Haut, die einst so glatt und makellos gewesen war wie der Rest von ihm. „Tut es weh, wenn ich dich so anfasse?“
Er sagte etwas, aber es klang erstickt, unverständlich.
Jetzt setzte Dylan sich auf, bis ihr Gesicht auf gleicher Höhe war wie seines. Sie sah ihm direkt in die Augen, um sicherzugehen, dass diese dünnen, katzenartigen Pupillen auf ihren Augen blieben, als sie vorsichtig seine Wange streichelte, sein Kinn, seinen wundervoll sinnlichen Mund.
„Schau mich nicht an, Dylan“, krächzte er, was er auch eben schon gesagt hatte, wie sie nun erkannte. „Scheiße ... wie kannst du mich so aus der Nähe ansehen? Wie kannst du deine Hände auf mich legen ... und nicht abgestoßen sein?“
Dylans Herz zog sich zusammen wie eine Faust. „Ich schaue dich an, Rio. Ich sehe dich. Ich berühre dich. Dich“, sagte sie betont.
„Die Narben ...“
„Sind nebensächlich“, beendete sie den Satz für ihn. Sie lächelte, als sie zu seinem Mund und seinen perfekten weißen, unglaublichen Fangzähnen, die ihm aus dem Zahnfleisch gesprossen waren, hinuntersah. „Deine Narben sind das Banalste an dir, wenn du die Wahrheit wissen willst.“
Er fletschte die Lippen, als wollte er sie mit noch mehr Gerede über seine Makel von sich stoßen, aber die Chance ließ Dylan ihm nicht. Sie nahm sein Gesicht in beide Hände, beugte sich vor und gab ihm einen tiefen, leidenschaftlichen Kuss und ließ sich damit alle Zeit der Welt.
Sie stöhnte, als seine Hände sich in ihr Haar wühlten und er sie wiederküsste.
Dylan wollte ihn so sehr, dass sie es kaum noch ertragen konnte.
Verdammt, das Ganze ergab so überhaupt keinen Sinn - diese Begierde nach einem Mann, den sie kaum kannte und vor dem sie aus so vielen guten Gründen eigentlich zurückschrecken sollte, statt ihn abzuküssen, als gäbe es kein Morgen mehr. Aber sie wollte nicht aufhören, Rio zu küssen. Sie legte ihm die Arme um die Schultern und zog ihn mit sich auf das Sofa hinunter. Sein Haar fühlte sich auf ihrer Handfläche seidig an, sein Mund heiß und fragend auf ihrem. Seine Hand war stark und doch sanft, als er unter den Saum ihres T-Shirts fuhr und ihr mit der Handfläche den Bauch hinauf und dann über ihre nackten Brüste strich.
Dylan wand sich, als er sie streichelte, als seine Finger ihre Brustwarzen reizten, bis sie so hart waren, dass es fast schmerzte, während seine Zunge ihren Mundwinkel umspielte.
„Oh Gott“, keuchte sie, schon entflammt und bereit für ihn.
Er drängte sich stärker zwischen ihre Oberschenkel, spreizte sie weit mit seinen Knien und rieb seine harte Erektion durch die Kleider gegen sie. Die Reibung ihrer Körper aneinander war so köstlich, dass sie fast gekommen wäre. Herr im Himmel, sie würde garantiert kommen, wenn er diesen flüssigen Rhythmus beibehielt, der keine Zweifel daran zuließ, was für eine Art Liebhaber er wäre, sobald sie erst aus ihren Kleidern waren.
Dylan hob die Füße und verschränkte die Knöchel um seine Hüften, ließ ihn wissen, dass sie bereit war, so weit mit ihm zu gehen, wie er wollte. Normalerweise war sie keine, die sich einem Mann an den Hals warf - sie konnte sich kaum noch daran erinnern, wann sie das letzte Mal Sex gehabt hatte, von gutem Sex ganz zu schweigen -, aber nun gab es nichts, was sie mehr wollte, als mit Rio zu schlafen. Und zwar genau hier und jetzt.
Er saugte ihre Unterlippe zwischen die Zähne, als er seine Hüften gegen ihre rollte. Sie genoss das Gefühl seiner Fangzähne auf ihrer Haut, die harten Stöße seines Körpers und die Anspannung seiner Muskeln unter ihrer Handfläche. Er fuhr ihr mit der Hand zwischen die Beine, seine Finger teilten ihr nasses, heißes Fleisch, und Dylan konnte den Schrei nicht mehr zurückhalten, der ihr aus der Kehle stieg. „Ja“, zischte sie, als sie wie aus dem Nichts ein Orgasmus überrollte. „Oh Gott... Rio ...“
Welle um Welle brandete in ihr auf, sie war ganz an die Lust verloren und klammerte sich an Rio, als ihre Mitte vor Erfüllung pulsierte. Sie hörte sein wildes Aufknurren und registrierte dunkel, dass er den Kuss unterbrochen hatte und seine Lippen ihr den Hals hinabwanderten. Sie schlang die Anne um ihn, als er an ihrem Hals knabberte, seine Zunge heiß und spielerisch an ihrer zarten Haut. Der schneidende Schmerz seiner Zähne an dieser Stelle erschreckte sie.
Sie verspannte sich, obwohl sie keine Angst haben wollte vor dem, was nun als Nächstes kam. Aber diese unwillkürliche Reaktion konnte sie nicht zurücknehmen, und Rio ließ von ihr ab, als hätte sie aus Leibeskräften geschrien.
„Tut mir leid“, flüsterte sie und streckte wieder die Hand nach ihm aus, aber er war schon fort, brachte eine ganze Armeslänge zwischen sich und das Sofa. Dylan setzte sich auf, plötzlich fühlte sie sich seltsam verlassen. „Tut mir leid, Rio, ich war mir nicht sicher ...“ „Entschuldige dich nicht“, murmelte er mürrisch. „Madre de Dios, entschuldige dich bitte nicht bei mir. Es war meine Schuld, Dylan.“
„Nein“, sagte sie. Sie wünschte sich so verzweifelt, dass er bei ihr blieb. „Ich will es doch, Rio.“
„Das solltest du nicht“, sagte er. „Und ich hätte nicht aufhören können.“
Er fuhr sich mit der Hand durch sein dunkles Haar und starrte sie mit diesen flammenden bernsteingelben Augen an. „Es wäre ein schrecklicher Fehler gewesen, für uns beide“, sagte er nach einer langen Pause. „Ach, verdammt noch mal. Es ist schon ein schrecklicher Fehler.“
Bevor sie etwas sagen konnte, drehte sich Rio einfach um und ging.
Als die Wohnungstür hinter ihm ins Schloss fiel, zog Dylan ihr T-Shirt wieder herunter und brachte ihre verrutschten Boxershorts in Ordnung. In der Stille, die er hinterließ, zog sie die Knie an bis unters Kinn und schlang ihre Arme um die Beine. Dann griff sie hinüber und knipste die Lampe aus.